Mathias Bertram

Publizist und Buchgestalter

FOTOZYKLUS UND BILDBAND »GALERIE DER STRASSE«

Bildband

Mathias Bertram:

Galerie der Straße. Fotografien

Leipzig: Lehmstedt Verlag, 2013.

 

96 Seiten  mit 70 Farbabbildungen

24 x 21 cm, Fadenheftung

Festeinband mit Schutzumschlag,

ISBN 978-3-942473-53-8

24,90 Euro (D), 25,90 Euro (A), 34,90 sFr

 

Der Band kann über alle deutschen Buchhandlungen und direkt vom Lehmstedt Verlag bezogen werden.

 

 

Fotografien

 

Die Fotografien sind in verschiedenen Formaten und Ausführungen erhältlich.

Anfragen an: info@mathias-bertram.de

Ausstellung

 

 

Nicht nur in Galerien und Museen finden sich Bilder, die den Schönheitssinn beschäftigen und Anlass zur Reflexion geben. Die ganze Welt ist voll von ihnen, man muss sie nur wahrnehmen und sich zu eigen machen. Ich sehe jedenfalls solche Bilder und Strukturen seit einigen Jahren am Straßenrand, dort, wo man sie am wenigsten vermutet, und hält sie in Fotografien fest. Auf verwitterten Hauswänden kann man rätselhafte Landschaften entdecken, in abgefahrenen Straßenmarkierungen merkwürdige Fabelwesen oder auf Verteilerkästen und Müllcontainern faszinierende Bild- und Farbkompositionen, die Wasser, Wind und Luft geschaffen haben, die in ihrer Wirkung aber mitunter manchen Werken von Paul Klee, Jackson Pollock, Wols, Antoni Tàpies oder anderen Meistern der abstrakten Kunst erstaunlich nahe kommen.

 

 

 

Aus dem Vorwort

 

Am Anfang war die Langeweile. Ein Herbstnachmittag in den Ferien, auf den Spielplätzen kaum ein Mensch, wie neuerdings üblich, waren die meisten Kinder ver­reist. Aber die Sonne schien und lud zu einem Spa­ziergang ein. Also nahmen meine Tochter, damals zehn Jahre alt, und ich unsere Kameras und brachen zu einer Expedition durch den nahe gelegenen Park auf. Wir hatten keine dreihundert Meter dorthin zu gehen, waren aber auch nach Stunden noch nicht dort. Denn  kaum hatten wir das Haus verlassen, entdeckte meine Tochter Risse im Asphalt, die – richtig, also mit einiger Phantasie betrachtet – einen bizarren weiblichen Kör­­per formten. Sie begann sogleich, Aufnahmen von der nahezu kubistischen Figur zu machen – einer Figur, wie man sie sonst wohl nur in Zeichnungen kleiner Kinder oder großer Künstler findet. Gewohnt streng untersagte sie mir, ebenfalls eine Aufnahme von »ihrem« Motiv zu machen, und entfachte damit einen regelrechten Wettstreit darum, wer die nächste Attraktion finden würde. Menschen liefen kaum vorbei, so suchten wir weiter auf der Straße, studierten die Vorgärten, begutach­teten die Häuser, Autos und Laternen. Ein Bild gab das ande­re, im schönsten Herbstlicht reihte sich Stilleben an Stilleben. Am Abend sichteten wir unsere Beute: dichte Büsche mit zarten Blüten, einsame Rosen, bizarre Schatten von Gartentoren, Kopfsteinplaster im Ge­­­genlicht, vertrocknendes Laub in sanften Rosé­tönen und viele Schönheiten mehr, mit denen man ohne weiteres Herbstgedichte hätte illustrieren können. Wir hatten also unser Vergnügen gefunden – in Bildern freilich, wie es sie in höchster Perfektion bereits zu Hunderten, Tausenden oder gar Hunderttausenden gibt. Zu viele und zu verwechselbar, um außer zum persönlichen Gebrauch noch mehr von ihnen machen zu müssen.

 

Magisch und interessant aber blieb jenes erste, fast abstrakte Bild, das zwar keineswegs perfekt war, aber ­etwas sichtbar machte, was wir vordem nicht bemerkt hatten. Es entfachte keinen Orkan, doch wie der Schlag eines Schmetterlingsflügels hatte es nicht vorhergese­hene Folgen: Es regte mich an, die Straßen und ihre Rän­der neu zu betrachten, anders als bisher, und das, was ich entdeckte, in Bildern festzuhalten, von denen nun einige in diesem Buch zu sehen sind. Noch an demselben Nachmittag hatte ich neben vielen anderen zwei, drei Bilder aufgenommen, die sich auf ähnliche Weise von den allbekannten Stilleben abhoben. Wei­tere folgten, und ich begann sie irgendwann se­parat zu sammeln. Aber es bedurfte mehrerer Experimente und am Ende auch ­einiger Biblio­theks­besuche, bis mir bewußt wurde, worin sie sich tatsächlich von den anderen unterscheiden, und noch län­ger, bis ich  allmählich anfing, die eigentüm­liche Funk­tions­weise dieser Bilder zu verstehen, die man, wie ich inzwischen glaube, als ein eigenes Genre der Fotografie betrachten kann – eines, über das bisher jedoch nur wenig nachgedacht worden ist.

 

Sucht man in der Geschichte der abstrakten Fotografie nach Ver­­wand­tem, findet man nur erstaunlich wenige Aufnahmen. Was die Bilder von jenen Fotogra­fien trennt, die für diesen wenig populären Bereich des Mediums prägend geworden sind, ist zunächst und vor allem ihre Farbigkeit, die – anders als beispielsweise in der klassischen Straßenfotografie – keineswegs nur eine zusätzliche Ebene schafft, sondern zumeist Grundlage ihrer Wirkungsweise ist. Anders aber auch als die berühm­ten Fotogramme von Man Ray, László Moholy-Nagy oder Heinz Hajek-Halke ist die Bildwelt dieser Fotografien nicht künst­lich im Studio geschaffen, arrangiert und komponiert. Ihre Motive sind konkret und natürlich: Risse im Asphalt, Gewächse auf Betonplatten, Kerben auf einer Bronze, Rost auf Metallplatten, Farbspuren auf Wänden. Ihre Gegenstände haben eine eigene Existenz, mitunter sogar Funktion und wer­den ganz realistisch und in natürlichem Licht wiederge­geben.

Das verbindet sie zunächst mit dem zweiten großen Strang der abstrakten Fotografie, die Objekte der realen Welt ins Bild setzt – man denke nur an die Aufnahmen von Alfred Renger-Patzsch oder der Bauhaus-Fotografen –, doch blei­ben da die oft nur in Ausschnitten gezeigten Stra­ßen, Häu­ser und anderen Dinge in ihrer natürlichen Drei­dimensionalität erhalten und als Objekte erkennbar. Auf den Bildern, um die es hier geht, ist die dritte Dimension dagegen weitgehend ausgeblendet, sie zeigen überwiegend Flächen und lassen Höhen und Tiefen dann nur in Strukturen von Oberflächen hervortreten. Das Objekt, zu dem sie gehören, ist in der Regel gar nicht mehr erkennbar und soll es auch nicht sein. So sind sie beides zugleich: natürlich und abstrakt. Natürlich, weil ihre Motive unbeeinflußt und real existieren, und abstrakt, weil die ins Bild gesetzten Figuren und Strukturen von ihrem realen Kontext abgelöst werden.

 

Das wichtigste Mittel dabei ist der Rahmen, den der Sucher der Kamera um die Motive legt. Zum einen ist er wie immer das grundlegende Element der Bildkomposition, zum anderen aber entrückt und entfremdet er das Motiv von seiner Quelle. Ist er eng genug gezogen, ent­steht ein Bild, das natürlich keine Malhaut hat, aber als Pendant zur modernen Malerei und Grafik in Erscheinung treten kann. Dadurch aber laden die Bilder dazu ein, die natürlich entstande­nen Strukturen und Figurationen als ästhetische Gebilde anzusehen, sie wie bewußt hergestellte Kunstwerke zu lesen, also ihnen Absicht und Sinnhaftigkeit zu unterstellen. Ist der Rahmen zu weit gezogen und der Verteilerkasten, der Mauerstein, der Gullydeckel noch als Ganzes in seiner natürlichen Umgebung und Funktion zu erkennen, so lehrt die Erfahrung, bleibt die Illusion aus, die erforderlich ist, um dem gefundenen Bild Bedeutung beimessen zu können. Anstelle der verblassenden dritten Dimension tritt dafür die vierte hervor: Die Bilder lassen die verlaufende Zeit hervortreten, denn die meisten Figuren und Strukturen verdanken sich dem Altern der Dinge, sind Ergebnisse von Korrosion, Erosion, Abnutzung und Zerfall.

 

Aufnahmen, die natürliche Strukturen in die Nähe von Artefakten rücken, finden sich bereits bei dem ame­­rika­nischen Fotografen Aaron Siskind, einem in Europa wenig bekannten Pionier der ab­strak­ten Fotografie. Er begann Ende der 1940er Jahre zum Beispiel, gezielt die Oberflächen von Straßen mit ihren Nar­­ben und Teerspuren aufzunehmen, ohne die Umgebung ins Bild zu setzen, und den Blick damit auf bemerkenswert erscheinende grafische Gebilde zu konzentrieren. Auch aus dem Umkreis der »subjektiven Fotografie« lassen sich Beispiele finden. Aber solange die Fotografie nur mit Ab­stufungen von Grau­tönen arbeitete, mußten solche Bilder notwendigerweise rein grafischen Struk­turen verpflichtet bleiben. Das änderte sich erst mit der Verbreitung der Farbfoto­grafie, denn sie ermöglichte es, Parallelen zur modernen Malerei zu ziehen. Im frankophonen Bereich fand man inzwischen einen treffenden Namen für diese Art Fotografien: »Peinture ­trouvée«, eine Analogiebildung zu der vor 100 Jahren noch als Pro­vokation empfundenen Erhebung trivia­ler Dinge zu Kunstgegenständen als »Objet trouvé«. Deutsche Ent­sprechun­gen wie »gefundene Gemälde« oder, weiter gefaßt, »gefundene Bilder« sind weniger klangvoll, deuten jedoch auch an, was das Wesen und den Reiz dieser Fo­tografien ausmacht. Streng genommen sind es auch nur die Strukturen und Figuren, die sich finden und zur Grundlage eines Bildes machen lassen, nicht die durch viele subjektive Entscheidungen des Fotografen geform­ten Bilder selbst. Die hier versammelten Fotografien etwa sind zwar digi­tal auf­genommen, aber nur insoweit »ent­wickelt« wor­den, wie es mit jeder Filmaufnahme im Labor hätte geschehen können. Auch handelt es sich weder um Makroaufnahmen noch gar um Mikrofotografien. Ihre Geheimnisse sind alle offenbar, also mit bloßem Auge zu erkennen.

 

Wie alt die Fähigkeit ist, solche »Funde« als ästhe­tische Gebilde zu lesen, weiß man nicht. Es be­­darf keiner Voraussetzungen, um ihre Farben, Formen und Strukturen schön zu finden. Die Fähigkeit, sie zu deuten und zu lesen, ist aber zweifellos mit der Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzenden Entwicklung der Ma­lerei zur Abstrak­tion gewachsen und gerade an den reizvollen Übergängen vom Realen zum Abstrakten geschult. Wer sich in Werke von Paul Klee, Jackson Pollock, Wols, Antoni Tàpies oder anderen Meistern dieser Kunst versenken kann, wird vermutlich auch an den fotografischen Vexierbildern seine Freude haben, die den gemalten Bildern in ihrer Wirkung manchmal erstaunlich nahe kommen. Wer mit diesen nichts anzufangen weiß, wird mit jenen erst recht kein Auskommen finden. Die Vorlieben und Deutungen der Betrachter gehen dabei wie immer weit auseinander und sind oft aufschlussreich wie ein Rorschach-Test.

Im glücklichen Fall aktivieren die Bilder zugleich den ästhetischen Sinn bei der Betrachtung trivialer Dinge und schärfen den Blick für die nächste Umgebung. Wir haben jedenfalls jahrelang unsere Straße überquert, ohne in ihren Rissen etwas anderes als Schäden zu sehen. Die Figur, die sie bilden, nimmt man auch nur im Abendlicht und aus einem bestimmten Winkel wahr, aber wenn man sie einmal gesehen hat, fällt es schwer, sie wieder zu ignorieren. So wurde die anfängliche Suche nach neuen Motiven auch zu einer wahren Schule des Sehens. Inzwischen suchen die Motive mich, die Straße ist mir zur Galerie geworden und selbst öde Gegenden lassen keine Langeweile mehr aufkommen.

 

 

 

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